Rumkommen

Reisegeschichten

Jamaika – im Land der Gegensätze

Mai 182017

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Zum einen gibt es hier naturverbundene Rastafaris, friedliche Reggaemusik, Marihuanageruch, kleine Obst- und Gemüsestände in jeder Straße, wunderschöne grüne Berge und viele kleine Farmen, auf denen alles nur erdenkliche wächst (Bananen, Kokosnüsse, Pfefferschoten, Paprika, Mais, Grünkohl, Kürbis, Möhren, Ingwer, Avocado, Muskatnuss, Ananas, Tomaten, Gurken, Salat, jack fruit, bread fruit, lemon grass, star apples, ackee, soursop, kalaloo, bok choi)... Zum anderen hingegen herrscht auf der Insel viel Armut und Kriminalität, Sexismus und Homophobie in der Gesellschaft und der Musik (Dancehall), der Wille zum Kapitalismus, außerdem wird sich ungesund ernährt und die Leute verbrennen den Plastikmüll auf ihren Grundstücken, da es kein Recyclingsystem gibt.

Trampen ist meine übliche Art der Fortbewegung. Aber auf Jamaika habe ich bisher nur Mehrpersonen-Taxis und Busse benutzt. Warum mache ich nicht weiter wie immer? Das ist doch inkonsequent. Zunächst mal ist das Trampen auf Jamaika nicht üblich. Aber das sollte mich nicht abschrecken. Schließlich war es das in vielen europäischen Ländern auch nicht. Zweitens muss ich gestehen, dass ich mich hier nicht so sicher fühle, wie z.B. auf Guadeloupe. Das liegt nicht zuletzt daran, dass hier weiße Menschen automatisch mit Geld assoziiert werden. Es fällt mir schwer, ein Bauchgefühl für die Menschen zu entwickeln. Ich kann nicht genau sagen warum, aber es hat auch damit zu tun, dass einem hier in den Straßen jeder etwas verkaufen will. Es geht immer sofort um Geld und das hat auch einen triftigen Grund, denn das Leben in Jamaika ist teuer. Die Preise sind so hoch wie in den Staaten oder Europa, dafür verdienen die Menschen hier im Durchschnitt aber viel weniger. So kommen wir auch schon zum dritten Punkt: Aleya, meine erste jamaikanische Gastgeberin, hat mir erzählt, dass es verpönt ist zu Trampen, da man so den Bus- und Taxifahrern die Gelegenheit nimmt ihre Familie zu ernähren. Schließlich kostet der öffentliche Transport so wenig, dass es sich fast jeder leisten kann. Und auch hier gibt es soziale Unterschiede. Man kann sich in einen Kleinbus oder ein Mehrpersonen-Taxi quetschen und kommt für 8 € einmal quer über die Insel oder man bezahlt ein Vielfaches für "echte" Reisebusse oder Taxis, in denen man allein sitzt. Meine ursprünglichen Argumente für das Trampen sind ja folgende: die Einheimischen kennenzulernen, durch die kostenlose Mitfahrgelegenheit Geld zu sparen, um länger reisen zu können und den ökologischen Fußabdruck zu verringern. In den Bussen kann man auch sehr viel über die Insel erfahren, denn hier wird nicht nebeneinander geschwiegen. Es wird auch immer gewartet, bis alle Plätze belegt sind, damit sich die Fahrt lohnt. Allerdings läuft während des Wartens auf Fahrgäste auch die ganze Zeit der Motor, damit Musik gehört werden kann... Genug der Beichte - jetzt geht es los mit den Geschichten!

Direkt nach unserer Ankunft machen Christoph und ich Bekanntschaft mit der Crew des beeindruckenden Schoners Germania Nova. Die Shalom würde sieben mal auf das Deck des Zweimasters passen. Es liegen Welten zwischen den beiden Schiffen. Wir werden von Skadoo, einem Rastafari, auf seine Farm eingeladen. Er baut alles von lemon grass über Bananen bis zu Ingwer an und erklimmt einen 30 Meter hohen star apple tree für uns, da die reifen Früchte in der Krone hängen. Dort trinken wir auch unseren ersten hochprozentigen Rum (63 Umdrehungen) und probieren etwas von seinem selbst angebauten Gras.

Nachdem ich Christoph am Hafen verabschiede, frage ich via Couchsurfing, ob ich bei Aleya übernachten kann. Sie kommt aus Jamaika, hat aber viele Jahre in Europa und in den Staaten gelebt und kann dadurch gut ihr Heimatland von außen betrachten. Sie kann mir sehr gut erklären, woher die Gegensätze in der Gesellschaft kommen und was für eine entscheidende Rolle die Sklavenhaltung in dem Land gespielt hat, da sie noch immer Auswirkungen auf die Menschen hat.

Ganz anders als auf Guadeloupe fühle ich mich hier wie ein wandelndes Portemonnaie. Ständig rufen die Leute auf mich ein: „Hey Jesus, warte mal! Hier rüber! Brauchst du ein Taxi? Willst du mit dem Bus nach Kingston? Ich habe Gras für dich! Ich bin Musiker und verkaufe meine CDs! Ich kann dir eine Führung durch meine Farm geben. Hier kannst du Rum kaufen! Hier gibt das beste jerk chicken in Jamaika!“ Dabei sagen alle Leute, dass hier in Portland noch am entspanntesten ist. Immerhin fühle ich mich auch nicht unsicher. Aber es ist schon um einiges aufdringlicher, als in allen anderen Ländern, in denen ich bisher unterwegs war.

Portland ist wunderschön. Die Hauptstadt Port Antonio war ehemals Dreh- und Angelpunkt für den Bananenexport in die USA. Die Dampfschiffe fuhren mit Bananen und Ananas beladen in den Norden und kamen mit Touristen an Bord wieder zurück. Heute ist davon nicht mehr viel zu merken. Nur einige weiße Segler sieht man in der Stadt, sonst sind fast nur Einheimische unterwegs. An der Küste gibt es ein paar Inseln, die man schwimmend erreichen und ungestört erkunden kann. Die Berge erstrecken sich direkt hinter den Küstenstädten und sind mit sattgrünen Wäldern übersät. Eine ständige Brise und sorgt dafür, dass es nie drückend heiß ist.

Bereits vor dem Segeltörn hatte ich mir einen Platz im Westen der Insel organisiert, wo ich gegen Kost und Logis arbeiten kann. Kim und Aida (Mutter und Tochter) wohnen in den Bergen in der Nähe von Montego Bay und haben ein großes Grundstück. Sie sind vor zwei Jahren von Amerika übergesiedelt. Das Haus steht zwar schon, ist aber noch nicht komplett. Ein zweites Geschoss fehlt soll hinzugefügt werden. Außerdem wollen sie Baumhäuser und einen Schuppen bauen und das Gelände für den Anbau von Obst und Gemüse urbar machen. Ich komme an und werde herzlich begrüßt. Kim zeigt mir, wo ich überall mein Zelt aufstellen kann. Als ich frage, wo denn die Toilette sei, zeigt sie nur auf den Wald hinter dem Grundstück. Sie könne mir einen Eimer oder Tüten geben. Etwas verdutzt bin ich schon, denn in ihrem Haus befindet sich eine Toilette und eine Küche. Da ich aber nicht unhöflich sein will, frage ich einfach, ob ich nicht eine Kompost-Toilette aus den Holzpaletten bauen kann, die sowieso für nichts anderes genutzt werden. Kim begrüßt diese Idee und so mache ich mich daran, mein eigenes Klo zu zimmern, um nicht jeden Tag im mückenübersäten Unterholz mein Geschäft verrichten zu müssen.

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Kim scheint zufrieden zu sein mit meinem Job.

Die Arbeit macht sehr viel Spaß. Kim kümmert sich darum, dass mir alle nötigen Werkzeuge beschafft werden und zaubert zusammen mit Aida jeden Tag das leckerste Essen. Komisch ist nur, dass ich nicht das Haus betreten kann. Es gibt also keinen Gemeinschaftsort im Gegensatz zu allen anderen Projekten, bei denen ich bisher mitgeholfen habe und ich kann auch nicht die Küche nutzen. Dadurch fühle ich mich manchmal etwas ausgeschlossen. Für jede Kleinigkeit muss ich an der Tür klopfen und auf Antwort hoffen. Ich gewöhne mich zwar schnell an diese Eigenheit, verstehe aber immer noch nicht genau, was der Grund dahinter ist. Baden gehen kann ich im naheliegenden Fluss oder mittels Wassercontainer am Hahn vor dem Haus. Es ist wirklich schön, unter freiem Himmel zu duschen. Man fühlt sich irgendwie gleich viel sauberer und erfrischter.

Kim erzählt mir von einem anderen Projekt, das eine halbe Stunde zu Fuß entfernt liegt. Dort arbeiten auch viele Freiwillige aus aller Herren Länder und jeden Freitag gibt es einen Filmabend. Da sie nicht möchte, dass ich mich einsam fühle, gibt sie mir mein Abendessen und etwas zu trinken mit und schlägt mir vor, dort vorbei zu schauen. Ich mache mich also auf von Lethe nach Eden. Fußwege gibt es hier nicht und hinter jeder Kurve ertönt ein neuer Song aus den Häusern oder vorbeifahrenden Autos. Diese Insel ist tatsächlich voller Musik. Wirklich ruhige Momente gibt es nicht. Hier herrscht das Leben! Dort angekommen werde ich herzlich von den Besitzern Melissa und Gillie und fünf deutschen Helfern begrüßt. Die Freiwilligen leben alle in Tipis, die aus Bambus gebaut sind. Ein ausrangierter Bus dient als Bar und wurde durch Outdoor-Küche und Wellblechdach zum Versammlungsort erweitert. Alle Möbel wurden entweder aus alten Paletten oder Stöckern gezimmert. Dieser Ort hat Stil!

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An den freien Tagen treffen wir uns alle zu einer Flussfahrt.

Da Kim nach einigen Tagen die Materialien zum Bauen ausgehen, ziehe ich um zum Magic Yellow Bus. Melissa bietet mir direkt ein Tipi an und mit den Deutschen Hannah, Franzi, Anika, Philipp, Thilo und Milan verstehe ich mich auf Anhieb super. Die Hauptaufgabe besteht darin, ein earth bag house zu bauen. Dazu mischen wir Kalkstein und Lehm in Säcken zusammen, stapeln diese aufeinander wie Ziegelsteine und stampfen sie danach fest, sodass sie komprimiert genug sind, um stabile Wände zu bilden.

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Die schwere Arbeit wird durch reichhaltige jamaikanische Kost belohnt. Gillie beginnt zwar schon den Morgen mit einem Becher Rum in der einen und einem Joint in der anderen Hand, versorgt uns aber jeden Tag mit drei leckeren Mahlzeiten, deren Zutaten hauptsächlich aus dem eigenen Garten stammen. Es sind friedliche Tage dort bis wir überfallen werden.

Ich spiele gerade den letzten Song des Abends auf meiner Gitarre, als hinter mir jemand mein Handy aus der Tasche zieht. Ich drehe mich um und sehe eine Pistole auf mich gerichtet. Der Mann ist maskiert und verlangt, dass wir uns alle auf den Boden legen. Jeder muss sein Handy und Bargeld abgeben. Zu siebt liegen wir mit dem Gesicht auf den Boden im Bus und rühren uns nicht. Einer der vier Räuber hält die Waffe auf uns gerichtet, bis die anderen die Tipis ausgeräumt haben. Es dauert eine Ewigkeit. Glücklicherweise kann Melissa sie davon überzeugen, zu ihren Kindern ins Haus zu gehen. Wenigstens etwas Menschlichkeit zeigen die Ganoven. Sie nehmen alle elektronischen Geräte, den gesamten Alkohol und alles Bargeld mit, was sie finden können. Nachdem sie endlich weiterziehen, ist mehr als eine Stunde vergangen. Wir stellen fest, dass niemandem etwas passiert ist und sind überglücklich, trotz der Misere des Diebstahls. Alle haben sich ruhig verhalten, um die maskierten Räuber nicht zu provozieren. Die Polizei erscheint viel zu spät. Zwei Stunden nach dem Überfall sehen wir das Blaulicht erscheinen. Natürlich sind die Täter bereits über alle Berge. Es ist ein einschneidendes Erlebnis. Niemand hat mehr Telefon, Kamera, Computer oder Bargeld. Die Reisepässe und Kreditkarten wurden zum Glück dagelassen. Trotzdem sind wir am nächsten Morgen alle noch ziemlich geschockt. Melissa bucht sofort einen Sicherheitsmann, der das Gelände in den folgenden Nächten überwacht.

Aus diesem Grund gibt es in diesem Reisebericht leider auch weniger Fotos zu sehen. Wir schaffen es allerdings, nicht den Mut zu verlieren und machen weiter wie bisher. Es ist nicht unbedingt ein traumatisches Erlebnis gewesen, aber dennoch sind die nächsten Wochen getrübt von einem allgemeinen Misstrauen gegenüber der jamaikanischen Gesellschaft. Ich bin viel nervöser, wenn ich durch die Straßen gehe oder lauten Auseinandersetzungen zuhöre. Meine Sinne für die Gefahr werden unbewusst geschärft, obwohl ich mich innerlich dagegen wehre. Ich möchte weiterhin in die Menschen vertrauen. So oft wurde mir während der Reise geholfen. So oft wurde mir Vertrauen geschenkt von Wildfremden. So oft wurde ich eingeladen aus reiner Gastfreundschaft, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Ich möchte nicht, dass ein negatives Geschehen das alles zunichte macht.

Nach ein paar Tagen ist dann der große Aufbruch. Hannah fliegt zurück nach Deutschland. Sie war am längsten von uns allen da und hat die Familie in Eden in ihr Herz geschlossen. Ihr fällt der Abschied am schwersten. Franzi zieht weiter nach Guatemala, um ihre Reise fortzusetzen. Philipp, Milan und Thilo fragen mich, ob ich mit ihnen eine Woche lang etwas Urlaub machen möchte. Sie wollen noch ein wenig die Insel erkunden, bevor es zurück in die Heimat geht. So nisten wir uns bei Eddie, einem Freund von Philipp, im Küstenort Negril ein. Dort verbringen wir ein paar entspannte Tage, um uns ein wenig von dem Schock erholen zu können.

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Danach geht es nach Kingston. Mein Papa hat gerade auf Kuba Urlaub gemacht und kommt mich extra auf Jamaika besuchen! Ein Wiedersehen nach acht Monaten tut gut! Zusammen erklimmen wir den höchsten Berg (Blue Mountain Peak) bei Nacht, um auf dem Gipfel den Sonnenaufgang zu bestaunen.

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Danach geht es wieder zurück nach Kingston und dann muss er auch schon wieder zurück fliegen. Es war verdammt kurz, aber wunderbar, wieder Familie um mich herum zu haben. Vor allem nach dem Erlebten. Zum Abschluss fahren wir alle zu Aleya nach Port Antonio, meinem Ankunftsort. Sie beherbergt uns für einige Tage in ihrem großen Haus. Wir erkunden die Umgebung ein wenig, schwimmen zu Monkey Island, schnorcheln und entspannen.

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Hanging out on Monkey Island

Als die drei Jungs zurück fliegen, helfe ich Aleya noch ein wenig, für ihre Mutter ein Geschenk zu basteln. Sie hat viel Bambus auf dem Grundstück und möchte daraus einen Tisch bauen. Gemeinsam schaffen wir es auch irgendwie. Es ist ein wirklich interessanter Werkstoff und erfordert eine ganz andere Herangehensweise als herkömmliches Holz. Ich habe das Gefühl, dass ich bei Aleya immer viel lerne.

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Die Nähe zum Hafen nutze ich aus, um nach Booten zu fragen, die mich nach Zentralamerika bringen können. Eigentlich möchte ich unbedingt nach Mexiko, da ich dort vor zehn Jahren ein Austauschjahr verbracht habe und meine Freunde besuchen möchte. Schließlich ist es nicht weit von Jamaika entfernt. Im Hafen angekommen, hänge ich einen Zettel aus und entdecke eine Superyacht. Die Crewmitglieder Denzil, Jake und Neill sind alle sehr gut drauf und bieten mir sogar an, mich bis nach Florida mitzunehmen. Leider fahren sie nicht nach Mexiko. Wow, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Einen Tag später bekomme ich allerdings eine Email auf meine Annonce hin von Aldo. Er kommt aus Uruguay und möchte nach Panama segeln. Da er allein an Bord ist, sucht er noch nach jemandem, der ihn bei der Überfahrt unterstützen kann. Tatsächlich passt mir die Richtung besser, und so entscheide ich mich gegen eine luxuriöse Überfahrt in das Land der unendlichen Möglichkeiten, für ein weiteres Abenteuer, bei dem ich mich allerdings etwas nützlicher fühle und bereits Zentralamerika erreiche.

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Hier sitze ich nun also auf Aldos 30-Fuß-Boot „Still Free“ und warte auf gutes Wetter, damit wir den einwöchigen Törn in den Süden starten können.

Kommentare

Philipp20 Mai, 2017Albrecht, du bist einfach ein Mann zum Bewundern. Super ehrlich und interessant geschrieben, danke dafür. Bis bald hoffentlich!
Joshi21 Mai, 2017Wieder einmal ein großartiger Blogeintrag! Ich kann das alles recht gut nachempfinden, jetzt so in Kolumbien und muss sagen - ja Guadeloupe war schon extrem entspannt! 😊 Stay safe out there Joshi
Christoph23 Juni, 2017Dont forget the "pussy fruit". Is torture mon. Sehr abenteuerlich geschrieben.

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